Osamu Dazai

Gezeichnet

und zwei weitere Kurzgeschichten

Osamu Dazai | Erika Strohbach | 1948 | Übersetzung 

In „Gezeichnet“, dem meisterhaften Roman von Osamu Dazai, navigieren wir durch die zutiefst persönlichen Aufzeichnungen von Yozo, einem Mann, der sich von der Menschheit entfremdet fühlt. Dieser introspektive Rückblick auf ein Leben voller Missverständnisse und Fehlinterpretationen lädt uns ein, die Facetten der menschlichen Existenz zu betrachten, die oft im Verborgenen liegen.

Mit feinsinnigem Witz und einer beklemmenden Offenheit erkundet Dazai die Dunkelheit, die sich hinter der Fassade des Lächelns verbirgt. „Gezeichnet“ ist nicht nur eine Erzählung über den Verlust der Unschuld und die Suche nach Authentizität, sondern auch eine tiefgründige Kritik an der sozialen Konformität und den ungeschriebenen Regeln, die das menschliche Miteinander prägen. Im Gegensatz zu den meisten deutschen Übersetzungen hat sich dieses Buch zur Aufgabe gemacht, dem japanischen Original möglichst nahe zu kommen und das Leseerlebnis nicht durch vereinfachtere Formulierungen einzuschränken.

Dazais unverwechselbarer Stil, der literarische Eleganz mit schneidender psychologischer Einsicht verbindet, macht dieses Werk zu einem unvergesslichen Leseerlebnis. Dieser Roman, der als Dazais quasi-autobiographisches Meisterwerk gilt und tief in der japanischen Kultur verwurzelt ist, spricht universelle Themen an, die auch heute noch, Jahre nach seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1948, resonieren.

Entdecken Sie mit dieser originaltreuen deutschen Übersetzung eine Geschichte, die sowohl eine persönliche Beichte als auch eine literarische Herausforderung darstellt und die Leser dazu einlädt, über die Frage nachzudenken: Was bedeutet es, wirklich menschlich zu sein?

Zusätzlich zum Klassiker erhalten Sie in diesem Buch die ersten deutschen Übersetzungen der Kurzgeschichten „Sarushima – Die Affeninsel“ und „Erhöre mein Flehen“, die weitere Einblicke in das Werk Dazais gewähren.

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Sarushima – Die Affeninsel

aus dem Buch

Über die folgenden Seiten werdet ihr euch mit zwei Kurzgeschichten von Dazai Osamu vertraut machen können. Besagte Kurzgeschichten wurden meines Wissens bisher nicht ins Deutsche übersetzt. Als Titel habe ich mich von den englischen Titeln inspirieren lassen. Ich schließe allerdings nicht aus, dass es doch bereits deutsche Versionen der Geschichten gibt und diese unter einem anderen Namen veröffentlicht wurden. In diesem Fall, vergebt mir meine Unwissenheit.

Über die Art der Übersetzung und meine Herangehensweise könnt ihr im Vorwort zu „Gezeichnet“ auf den ersten Seiten dieses Buches lesen. Mein Modus Operandi hat sich für die Kurzgeschichten nicht geändert.

Für Leser, die mit meiner originalgetreuen Übersetzung nichts anfangen können, hoffe ich, dass sich in Zukunft ein weiterer Autor an eine „Leserfreundlichere“ Übertragung ins Deutsche setzen wird.

Stellen Sie sich vor, wie trostlos diese ersten Momente waren. Ich war den ganzen Weg über das Meer angereist, und die Insel war in Nebel gehüllt. War es Nacht? Oder Tag? Ich konnte es nicht genau sagen, während ich mit den Augen blinzelte und versuchte, die Umgebung zu überblicken. Schließlich konnte ich einige große, kahle Felsen ausmachen, die übereinander aufgetürmt einen steilen Abhang bildeten. Hier und da, zwischen den Felsen, zeichnete sich der dunkle Eingang einer Höhle ab. Könnte dies wirklich ein Berg sein? Ein Berg ohne auch nur einen einzigen Grashalm?

Ich trottete den Strand am Fuße des Abhangs entlang. Ab und zu hörte ich einen seltsamen Schrei, nicht weit von mir entfernt. War es ein Wolf? Oder vielleicht ein Bär? Ich war erschöpft von der langen Reise, aber das stärkte meinen Willen nur noch mehr. Ich ignorierte die Schreie und folgte dem Weg, der am Strand entlangführte.

Ich war erstaunt über die Eintönigkeit des Ortes. Egal, wie weit ich ging, der Weg ging weiter und weiter. Zu meiner Rechten lag der Berg, zu meiner Linken eine senkrechte Wand aus groben, kieseligen Felsen. Dazwischen verlief der Pfad, zwei Meter breit und völlig unbewachsen.

Solange er nicht aufhörte, würde ich weitergehen. Ich war zu müde und zu verwirrt für Worte, aber gerade das machte mich absolut furchtlos.

Ich muss etwa anderthalb Kilometer zurückgelegt haben, als ich wieder an der Stelle ankam, von der ich losgegangen war. Erst da wurde mir klar, dass der Weg lediglich um den Fuß des Berges herumführte. Aber war ich nicht genau an dieser Stelle schon einmal vorbeigekommen, als ich losgegangen war? Ja, sicher. Ich muss zweimal um den Berg herumgegangen sein, ohne es zu bemerken. Die Insel war also kleiner, als ich zunächst angenommen hatte.

Der Nebel lichtete sich allmählich, und die Bergspitze schimmerte nun direkt über meiner Stirn. Der Berg hatte eine unregelmäßige Form und wies drei verschiedene Bergrücken auf. Der mittlere war ein Hügel, vielleicht zehn oder zwölf Meter hoch. Dieser Hügel verlief auf der einen Seite sanft zu einem darunter liegenden Kamm; auf der gegenüberliegenden Seite fiel er steil ab, bis er sich etwa auf halber Höhe zu einem weiteren Kamm ausbreitete. In der Kluft zwischen dem Felsen und dem Grat stürzte ein Wasserfall in die Tiefe. Die Felsen dieser nebligen Insel waren dunkel und vor allem in der Nähe des Wasserfalls von Feuchtigkeit gezeichnet. Auf dem Kamm des Wasserfalls stand ein Baum, offenbar eine Immergrüne Eiche. Ein weiterer Baum stand auf der Spitze des wulstigen Bergrückens, aber einen solchen hatte ich noch nie gesehen. Beide Bäume waren kahl.

Eine Zeit lang betrachtete ich diese trostlose Szenerie in völligem Erstaunen. Der Nebel lichtete sich immer mehr, bis das Sonnenlicht auf den hohen Mittelrücken fiel, dessen Oberfläche nass und glänzend war. Das war die Morgensonne, kein Zweifel. Ich kann den Morgen vom Abend unterscheiden, weil er so anders duftet. Hatte die Morgendämmerung also endlich eingesetzt?

Etwas erholt begann ich, den Berg hinaufzuklettern. Der Hang hatte von unten betrachtet steil ausgesehen, war jedoch leicht zu erklimmen. Ich konnte mich gut aufstützen und erreichte bald den Kamm des Wasserfalls.

Hier schien die Morgensonne direkt auf mich herab, und eine leichte Brise streichelte meine Wange. Ich ging zu dem Baum hinüber, der wie eine Immergrüne Eiche aussah, und setzte mich nieder. War es wirklich eine Immergrüne Eiche? Oder eher eine japanische Eiche? Vielleicht war es auch eine Tanne? Ich schaute zur Spitze empor. Entlang des Stammes ragten dünne, abgestorbene Äste vor dem Himmel auf, und die meisten der unteren Äste waren unsanft abgebrochen. Sollte ich hinaufklettern?

Der wehende Schnee

Ruft mich.

Dieses Geräusch war wahrscheinlich der Wind. Ich ertappte mich dabei, wie ich mich am Stamm hocharbeitete.

Er ruft mich

Aus der Gefangenschaft.

Man hört alle Arten von Gesang, wenn man erschöpft ist. Als ich die Spitze erreicht hatte, schwang ich mich auf einem welk aussehenden Ast hin und her.

Er rief mich

Aus einem unglücklichen Leben.

Plötzlich knackte der Ast. Ich griff nach dem Stamm und rutschte unsanft hinunter.

„Du hast ihn kaputt gemacht! Verdammt noch mal!“

Ich hörte es eindeutig, von irgendwo oben. An den Baumstamm geklammert, stand ich auf und blickte in die Richtung der Stimme. Augenblicklich lief mir ein Schauer über den Rücken. Von der schimmernden, sonnenbeschienenen Klippe machte sich ein einsamer Affe flink auf den Weg nach unten. In diesem Moment flammte meine unterdrückte Wut schlagartig auf.

„Komm schon“, brüllte ich, “ auch bis ganz nach unten! Ich habe ihn kaputt gemacht. Wenn du Streit suchst, ich bin bereit.“

Er hatte den Fuß der Klippe erreicht. „Das ist mein Baum“, sagte er und kam auf den Wasserfall zu. Ich verharrte, aber er runzelte bloß die Stirn. Während er mich anstarrte, schien er von der Sonne geblendet. Schließlich brach er in ein breites Grinsen aus und lachte laut auf. Das Lachen verärgerte mich.

„Was ist so lustig?“

„Du“, antwortete er. „Ich wette, du bist von Übersee hierher gekommen, nicht wahr?“

„Ja“, bemerkte ich und nickte. Mein Blick blieb auf dem Kamm des Wasserfalls haften, auf dem das Wasser eine Welle nach der anderen schlug. Ich dachte an die lange Seereise in der kleinen hölzernen Kiste.

„Ich meine damit das offene Meer, wie auch immer es genannt wird.“

„Ja.“ Ich nickte noch einmal.

„Also genau wie ich.“

Nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, schöpfte er etwas Wasser aus dem Wasserfall und trank es. Wenige Augenblicke später saßen wir nebeneinander.

„Wir kommen aus der selben Gegend. Ein Blick genügt, um das zu erkennen. Es sind die glänzenden Ohren. Alle Kameraden von dort haben sie.“

Er griff nach meinem Ohr und zwickte es fest. Wütend schlug ich seine Hand weg. Dann sahen wir uns an und brachen in Gelächter aus. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich entspannt.

Plötzlich schallte ein Kreischen aus der Nähe. Erschrocken blickte ich mich um. Ein Schwarm haariger, dickschwänziger Affen stand auf einem Erdhügel auf der Lauer und schrie uns an. Ich sprang auf.

„Hey, beruhig dich! Sie sind nicht auf einen Kampf aus. Wir nennen sie Brüllaffen. Sie blicken in die Sonne und jaulen jeden Morgen auf diese Weise.“

Ich blieb wie versteinert stehen. Auf jedem Kamm hatten sich Affen versammelt, die sich zum Sonnenbaden vorbeugten.

„Sind das alles Affen?“ fragte ich. Möglicherweise träumte ich nur.

„Ja, genau. Aber sie sind nicht dieselben wie wir. Sie kommen aus einem anderen Wald.“

Ich sah mir die Affen genau an, einen nach dem anderen: eine Mutter, die ihr Baby stillte, wobei ihr flauschiges, weißes Haar im Wind wehte; ein Sänger, der eine Melodie summte und seine große, rote Nase in den Himmel reckte; ein Liebhaber, der seine Gefährtin im Sonnenschein bestieg, wobei sein prächtig gestreifter Schwanz wedelte; ein stirnrunzelnder Querulant, der emsig herumlief.

„Wo könnte dieser sein?“ flüsterte ich.

Seine Augen füllten sich mit Mitgefühl, als er sagte: „Ich weiß es auch nicht. Aber nach Japan sieht es nicht aus.“

„Hm“, wunderte ich mich und stieß einen Seufzer aus. „Aber guck dir diesen Baum an – er ähnelt einer Kiso-Eiche.“

Er drehte sich um und klopfte an den Stamm des verdorrten Baumes. Dann schaute er bis zur Spitze hinauf.

„Nein, das stimmt nicht. Die Äste sind anders. Und die Rinde dieses Baumes scheint die Sonne nicht zu reflektieren, nicht wahr? Natürlich können wir es erst genau sagen, wenn die Knospen aufgehen.“

Ich lehnte mich an den verdorrten Baum, so wie ich dastand. Dann fragte ich: „Warum hat er keine Knospen?“

 

„Er ist schon den ganzen Frühling über vertrocknet, seit ich hier bin. Mal sehen, April, Mai, Juni – das sind jetzt drei Monate. Er wird immer mehr schrumpeln. Vielleicht ist er ein Steckling, auf jeden Fall hat er keine Wurzeln. Der Baum dahinter ist noch schlimmer – er ist völlig mit ihrem Mist bedeckt.“

 

Während er das sagte, zeigte er auf die Brüllaffen. Sie hatten aufgehört zu heulen, und auf der Insel war es still geworden.

„Warum setzst du dich nicht hin. Lass uns darüber sprechen.“

Ich setzte mich neben ihn.

„Es ist kein schlechter Platz – zumindest der beste auf dieser Insel. Hier gibt es viel Sonne, und den Baum gibt es auch. Und außerdem hört man das Wasser plätschern.“

Er blickte zufrieden auf den Wasserfall zu seinen Füßen und redete weiter. „Ich komme aus dem Norden Japans, aus der Nähe der Tsugaru-Meerenge. Von meinem Geburtsort aus kann man in der Nacht die Wellen brechen hören. Wellen – ah, ein Geräusch, das einem wirklich ans Herz wächst. Es ist einfach unvergesslich.“

Ich wollte über meine Heimat sprechen. „Ich bin in den Bergen geboren, mitten in Japan. Für mich sind es eher die Wälder als der Klang der Wellen. Der Geruch von frischem Laub ist mir jederzeit lieber.“

„Stimmt genau! Wir alle sehnen uns nach den Wäldern. Deshalb möchte sich jeder Kamerad auf dieser Insel in der Nähe eines Baumes niederlassen – ein einziger reicht aus.“

Während er sprach, teilte er die Haare in seinem Schritt und enthüllte eine Reihe großer, dunkelroter Narben.

„Es hat einiges gekostet, diesen Ort zu meinem zu machen.“

Ich dachte, es wäre besser, wenn ich verschwinden würde. „Tut mir leid, ich wusste nicht, dass er dir gehört . . .“

„Das ist schon in Ordnung. Es macht mir nichts aus. Siehst du, ich bin hier ganz allein. Aber es ist noch Platz für dich. Pass nur auf, dass du nicht noch mehr Äste abbrichst, okay?“

Der Nebel hatte sich völlig verzogen, und vor uns lag eine fantastische Szenerie. Frisches Laub – das war das Erste, was mir auffiel. Mir wurde klar, dass es genau die Jahreszeit war, in der die Eichenblätter zu Hause am schönsten blühten. Ich nickte erfreut und betrachtete verzückt eine Reihe von Bäumen mit frischen Blättern. Aber nicht für lange. Unter den Ästen eröffnete sich ein weiterer erstaunlicher Anblick. Dort, auf einem Kiesweg, der mit frischem Wasser besprenkelt war, strömten menschliche Wesen vorbei. Sie hatten blaue Augen und waren ganz in Weiß gekleidet. Die Frauen trugen bunte Federn in ihren Hauben, während die Männer mit ihren schweren Schlangenlederstöcken herumfuchtelten und dabei lächelten.

Ich zitterte schon, als mein Partner mich beruhigend in den Arm nahm und mir rasch zuflüsterte: „Ruhig, ganz ruhig. Das ist jeden Tag so.“

 

„Was wird denn jetzt passieren? Sie suchen alle nach uns.“

Ich erinnerte mich an die ganze Tortur – von meiner Gefangennahme in den Bergen bis zu meiner Ankunft auf dieser Insel. Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Sie führen eine Schau auf“, bemerkte er schnell. „Nur für uns. Beruhige dich, und wir werden Spaß haben.“

Erneut legte er seinen Arm um mich. Dann winkte er mit dem anderen Arm in Richtung dieser oder jener Person und sprach flüsternd zu mir. Die da ist eine Frau, begann er, und sie kennt nur zwei Arten zu leben – entweder sie ist der Chef des Mannes oder sein Spielzeug. Ich habe dieses seltsame Wort „Bauchnabel“ gehört und frage mich oft, ob die Leute es mit Blick auf jemanden wie sie benutzen. Es gibt einen Gelehrten, fuhr er fort, eine Kreatur, die ihr Brot damit verdient, ein totes Genie mit Fußnoten zu versehen oder ein lebendes zu verhöhnen. Allein sein Anblick macht einen dösig. Dann zeigte er auf eine Schauspielerin und nannte sie eine alte Hexe. Er erzählte mir, wie sie ihr eigenes Leben dramatischer spielte als jede Bühnenrolle. Dann stöhnte er übertrieben auf und sagte: Oh, wie tut mir mein Backenzahn weh! Und da, fuhr er fort, geht ein Wirt, ein Feigling, der immer darüber murrt, wie hart er arbeitet. Wenn man ihn sieht, hat man das Gefühl, als würden Läuse über den Nasenrücken krabbeln. Und der da drüben, der auf der Bank sitzt und weiße Handschuhe trägt, ist der Schlimmste von allen. Seht ihn euch an! Ich kann nur sagen, wenn er aufkreuzt, scheint die Luft nach gelber Scheiße zu riechen.

Ich hörte seinem Geschwätz nur halbherzig zu, denn etwas anderes hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Seit einiger Zeit spähten zwei Kinder auf die Insel, ihre Gesichter knapp über der Kieselsteinwand. Sie hatten einen gierigen Blick, und ihre klaren blauen Augen schienen zu brennen. Beide müssen Jungen gewesen sein, mit kurzem blondem Haar, das im Wind wehte. Der eine hatte eine Nase voller dunkler Sommersprossen, während der andere Wangen hatte, die frisch wie Pfirsichblüten waren.

Die Jungen legten den Kopf schief, als ob sie über etwas nachdächten. Dann schürzte der sommersprossige Junge die Lippen und flüsterte seinem Freund aufgeregt etwas ins Ohr. Ich ergriff meinen Begleiter und schrie: „Was sagt er? Sag es mir! Wovon reden diese Kinder?“

Der Affe schien verblüfft zu sein. Er hörte sofort auf zu plappern und schaute dann zwischen den Jungen und mir hin und her. Gedankenverloren verzog er den Mund und murmelte vor sich hin, was mir den Eindruck vermittelte, dass er sehr beunruhigt war. Auch nachdem die Jungen das eine oder andere Wort gestammelt hatten und hinter der Mauer verschwunden waren, blieb er zögerlich, berührte mit der Hand mal die Stirn, mal kratzte er sich am Hintern. Schließlich verzog sich sein Mundwinkel zu einem zynischen Grinsen. „Diese Jungs“, sagte er langsam, „haben gemeckert, dass hier alles immer gleich ist, wenn sie kommen.“

Endlich verstand ich – alles ist gleich. Mein Verdacht, den ich bis jetzt für mich behalten hatte, war korrekt. Wenn sie sich beschwerten, dann musste das heißen, dass wir die Schau waren.

 

„Ich verstehe. Du hast mich vorhin angelogen, nicht wahr?“ Ich hätte ihn auf der Stelle verprügeln können.

Sein Arm legte sich um meine Taille und er erwiderte: „Die Wahrheit ist grausam.“

Ich stürzte mich auf seine riesige Brust, angewidert von seiner Fürsorge für mich.

Noch mehr schämte ich mich für meine eigene Dummheit.

„Hör auf zu jammern. Das nützt nichts.“ Dann klopfte er mir sanft auf den Rücken und fuhr mit müder Stimme fort. „Da drüben ist ein langes, schmales Schild. Siehst du es, wie es über die Steinmauer ragt? Die Rückseite ist in diese Richtung gerichtet – nur ein Stück verwittertes Holz. Aber auf der anderen Seite steht etwas drauf. Vielleicht steht da: „Der japanische Affe, bekannt für seine glänzenden Ohren“. Oder etwas noch Erniedrigenderes.“

Ich wollte nichts mehr hören. Ich ließ ihn los und rannte hinüber zu dem verdorrten Baum. Ich kletterte den Stamm hinauf, hielt mich an einem Ast fest und blickte über die ganze Insel. Die Sonne stand bereits hoch, und hier und da bildeten sich Nebelschwaden. Unter dem blauen Himmel sonnten sich mindestens hundert Affen friedlich in der Sonne. Er blieb in der Nähe des Wasserfalls hocken, aber ich rief ihm trotzdem hinunter: „Keiner von ihnen hat es bemerkt?“

Ohne aufzublicken, antwortete er: „Die? Wahrscheinlich nur du und ich.“

„Können wir nicht einfach abhauen?“

„Du willst raus?“

„Ich gehe“, beharrte ich. Die grünen Blätter, der Kiesweg und der Menschenstrom rauschten vor meinen Augen.

„Du hast keine Angst?“

Das hätte er nicht sagen sollen. Ich schloss meine Augen fest und versuchte, seine Worte zu verdrängen.

In der Brise, die meine Ohren streichelte, hallte eine tiefe, melodische Stimme wider. Sang er etwa? Meine Augen wurden warm. Es war das gleiche Lied, das mich zuvor vom Baum heruntergeholt hatte. Ich schloss meine Augen und lauschte.

„Nein, nein. Komm runter. Es ist so schön hier. Die Sonne scheint und es gibt Bäume. Du kannst das Wasser rauschen hören. Und das Beste ist, dass du dir keine Sorgen machen musst, woher deine nächste Mahlzeit kommt.“

Ich hörte seine Stimme wie aus weiter Ferne. Und auch das leise Lachen, das darauf folgte.

Ah, wie verlockend es doch war. Und auch nahe an der Wahrheit. Vielleicht war es die Wahrheit. Etwas brach fast in mir zusammen. Und doch ließ sich die Erregung – die Erregung meines bergischen Blutes – nicht beruhigen.

Ich würde nicht bleiben!

 

Mitte Juni 1896 wurde ein Bericht des Londoner Zoos veröffentlicht. Auf Monkey Island hatte es einen Bruch gegeben. Zwei japanische Affen, nicht nur einer, waren entkommen. Beide, so die Schlussfolgerung des Berichts, sind noch auf freiem Fuß.

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